Solidarische Bürgerversicherung anstatt Pflegeversicherung

Steffi Schünemann M.A. ist Vorständin Verband und Sozialpolitik im AWO Landesverband Sachsen-Anhalt e.V. Wir haben Sie nach den Gründen für die wachsenden Eigenanteile bei der Finanzierung eines Pflegeheimplatzes gefragt. Und wir wollten von ihr wissen, wie eine gerechtere Verteilung der Pflegekosten aussehen könnte und welche Forderungen die AWO hinsichtlich der Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte hat.

Was sind die Gründe für die derzeitige Steigerung der Eigenanteile?

Die Inflation und die aktuelle Energiekrise bedingen enorme Kostensteigerungen, z.B. für Strom, Gas, Treibstoff und Lebensmittel. Zum 1. September 2022 trat auch das Tariftreuegesetz in Kraft, wonach sich die Entlohnung in der Pflege ausrichtet. Damit konnte eine bessere Bezahlung der gesellschaftlich bedeutsamen Arbeit in der Pflege erreicht werden.

Diese Entwicklungen schlagen sich in erhöhten Eigenanteilen nieder, da es an einer Gegenfinanzierung fehlt. Somit gehen sämtliche Kostensteigerungen zu Lasten der ohnehin schon finanziell stark beanspruchten hilfe- und pflegebedürftigen Menschen. Wenn die Rente für die Eigenanteile in der statio­nären Pflege nicht mehr reicht, sind sie zur Inanspruchnahme von Sozialhilfe gezwungen. Das löst bei den Betroffenen große Ängste und Sorgen aus. Hier muss dringend politisch gehandelt werden.

Wie muss eine nachhaltige Finanzierung und eine gerechtere Verteilung der Pflegekosten aussehen?

Es ist, wie seit Jahren gefordert, eine grundlegende Umgestaltung des Finanzierungs- und Leistungssystems der Pflegeversicherung notwendig. Die Pflegeversicherung muss zu einer solidarischen Bürgerversicherung ausgebaut werden, die die Finanzierung von Pflege zukunftsfest auf eine breite Basis stellt. Das bedeutet u.a., dass alle Berufsgruppen in die Finanzierung der Pflege einbezogen werden müssen. Zudem sollten die von den pflegebedürftigen Menschen zu zahlenden Eigenanteile in Form eines monatlichen fixen Betrages für die pflegebedingten Aufwendungen (sog. Sockel) festgeschrieben werden. Die darüber hinaus anfallenden Kosten (Spitze) sind durch die Pflegeversicherung zu tragen. Hierbei wird auch vom sog. Sockel-Spitze Tausch gesprochen. Aus AWO-Sicht ist eine Deckelung der Eigenanteile in der Höhe wie in der Dauer notwendig, um Pflege und deren Kosten für die Betroffenen planbar zu machen. Die Pflegeversicherung muss auch um Kosten entlastet werden, welche nicht in diesen Bereich hineingehören. Medizinische Leistungen, wie z. B. der Verbandswechsel oder die Gabe von Medikamenten, dürfen nicht zu Lasten der Pflegeversicherung gehen, so wie es derzeit in der stationären Pflege der Fall ist. Diese medizinischen Leistungen sind über die Krankenversicherung zu finanzieren.

Auch Ausbildungskosten dürfen nicht den pflegebedürftigen Menschen aufgebürdet werden.

Die Ausbildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und damit eine pflegeversicherungsfremde Leistung. Die Ausbildungskosten in der Pflege sollten deshalb steuerfinanziert werden.

Die Investitionskosten (z.B. Kosten für notwendige Umbaumaßnahmen, Instandhaltung und Modernisierung) gehen derzeit auch zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen.

Im Pflegeversicherungsgesetz ist geregelt, dass die Länder für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur verantwortlich sind. Deshalb müssen die Länder auch für die Investitionskosten aufkommen.

3. Welche Forderungen hat die AWO hinsichtlich der Arbeitsbedingungen für die Pflegenden?
Die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen dringend verbessert werden.

Der hohen Einsatzbereitschaft der Pflegenden ist es zu verdanken, dass die Versorgung der Menschen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, gesichert und die Pandemie eingegrenzt werden konnte. Dennoch hat die Pandemie viele Pflegende an ihre Grenzen gebracht. Es gilt nun, sie aufzufangen und ihnen eine Perspektive zu geben. Manch Pflegender ist sogar aus der Pflege ausgestiegen. Bundesweit haben 300.000 Pflegende dem Beruf den Rücken gekehrt. Viele wären unter verbesserten Voraussetzungen bereit, wieder in der Pflege zu arbeiten. Es braucht angesichts des demografischen Wandels und des bereits jetzt bestehenden Pflegekraftmangels mehr Menschen, die sich für den Pflegeberuf entscheiden. Die Entwicklung eines Pflegepersonalbemessungsinstrumentes hat nochmal deutlich vor Augen geführt, dass zusätzliche Pflegekräfte nötig sind, um die Bedarfe der pflegebedürftigen Menschen erfüllen zu können.

Im zweiten Halbjahr 2023 sollen die Weichen gestellt werden, dass mehr Hände in die Pflege kommen. Aber diese Personalmehrung darf die pflegebedürftigen Menschen nicht finanziell belasten. Es werden neben Pflegefachkräften auch viele Pflegehelfer*innen gebraucht. Deshalb muss eine generalistische Pflegehelferausbildung zügig auf den Weg gebracht werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Ausbildungsvergütung und auch die Aufwendungen der praktischen Pflegehelferausbildung nicht refinanziert sind.

Die bundesweite Imagekampagne für den Beruf der Pflegefachfrau und des Pflegefachmannes muss unbedingt fortgeführt und um den Pflegehelferberuf ergänzt werden.

Die multiprofessionelle Sorge muss Standard werden, indem weitere Berufsgruppen als Fachkräfte anerkannt und finanziert werden. Damit werden psychosoziale, pädagogische und therapeutischen Bedarfe der pflegebedürftigen Menschen eine noch bessere Berücksichtigung finden. Der multiprofessionelle Einsatz führt auch zur Stärkung, Kompetenzerweiterung und zu mehr Zufriedenheit der Beschäftigten in der Arbeitswelt Pflege.

4. Welche grundsätzlichen Weichenstellungen müssten aus Sicht der AWO seitens der Politik erfolgen, um die Pflegefinanzierung für die Zukunft fit zu machen?

Siehe 3. Und:

Positiv wirkte der „Pflegerettungsschirm“, der die Mehraufwendungen und Mindereinnahmen, welche die Pflegeeinrichtungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie hatten, mit einer Gegenfinanzierung aufgefangen hat. Der Pflegerettungsschirm wurde zum 1.7.2022 aufgehoben. Diese Maßnahme muss rückgängig gemacht werden, da die Pandemie lange nicht vorbei ist. Die Kosten für erforderliche Schutzmaßnahmen und den zusätzlichen Personalbedarf müssen dringend abgefedert werden.

Wir fordern zudem einen „Energierettungsschirm“, der die immensen Preissteigerungen auffängt. Hier muss politisch schnellstens gehandelt werden!

Bei der Investitionsförderung müssen Innovationen in der Pflege sowie die Umsetzung der Maßnahmen des Klimaschutzes (z. B. energetische Sanierung für erneuerbare Energiesysteme) vollumfänglich und dauerhaft finanziert werden. Pflegeeinrichtungen sind bereit, Verantwortung zum Erreichen der Klimaziele zu übernehmen. So hat z.B. das AWO Seniorenzentrum Leuna erfolgreich am Umwelt-Projekt „Klimafreundlich pflegen“ teilgenommen und damit über drei Tonnen Kohlendioxid-Emissionen im Jahr eingespart.