Ehrenamt Selbsthilfegruppe

Halle, 20.04.2022: Alles fing im Alter von 16 oder 17 Jahren an. Da fuhr Stefan Martin Börner, aufgewachsen in Südbaden nahe an der Schweizer Grenze, nach Basel zum Flippern. Dort hingen auch Geldspielautomaten. (Anmerkung: Bis Anfang der 1980er-Jahre war der Zugang zu den Spielhallen in Basel mit 16 Jahren möglich.) Und wie es der Zufall wollte, hatte er auch gleich gewonnen. Dieses Erfolgserlebnis fixte ihn an. Immer öfter fuhr er dorthin, erhöhte die Einsätze, spielte an mehreren Automaten gleichzeitig. Ab und zu überzog er sein Konto, um die Einsätze zu finanzieren.

Im Jahr 1998 nahm er sein exzessives Spielen als Sucht wahr. Damals eröffnete in Halle, wo er inzwischen lebte und arbeitete, die Spielbank. Er wechselte von der Spielhalle zur Spielbank, vernachlässigte seine Familie. Selbst die Gelder der Firma, für die er arbeitete, waren vor seiner Spielsucht nicht mehr sicher. Ihm wurde bewusst, dass es eine Sucht ist, die er aus eigener Kraft nicht überwinden konnte.

„Der Automat war mein Psychologe, nur mit einem sehr hohen Stundensatz“, sagt er mit einem Augenzwinkern, angesprochen auf die Ursachen für eine Spielsucht. „Wenn ich spielen gegangen bin, waren meine Probleme wie weggeblasen. Nach dem Spiel wurden sie immer größer.“

Erst seit dem Jahr 2002 ist die Spielsucht als Krankheit anerkannt. Dadurch haben Betroffene auch das Recht auf eine Therapie.

Der Einschnitt

Es kam, wie es kommen musste. Sein Arbeitgeber merkte nach 7 Jahren, dass Geld fehlte. Er wurde erwischt. Letztlich war er froh, dass es endlich vorbei war. Das gab ihm den notwendigen Antrieb, sich professionelle Hilfe zu suchen. Dennoch wurde er im Jahr 2006 verurteilt. Von den vier Jahren saß er 2,5 Jahre ab. Für ihn war dies wichtig. Einen Freispruch hätte er nicht gewollt. Nach dem Gefängnis ging er zur Therapie. Und er besuchte die damalige Selbsthilfegruppe in Eisleben. Als diese sich auflöste, wurde er wieder rückfällig. Seit 2012 ist er stabil, was sein Suchtverhalten betrifft.

Selbsthilfe

Im November 2011 gründete er mit Unterstützung der AWO Suchtberatungsstelle in Halle die Selbsthilfegruppe „game over“. Diese trifft sich vierzehntägig, donnerstags in den ungeraden Kalenderwochen von 16.30 bis 18 Uhr in den Räumen der AWO Suchtberatungsstelle, Trakehnerstraße 20 in Halle.

„Bei uns darf gelacht werden, geweint werden, keiner wird stigmatisiert“, beschreibt er das Miteinander in der Selbsthilfegruppe. Zusätzlich absolvierte er die Ausbildung zum ehrenamtlichen Suchtkrankenhelfer, was ihm persönlich aber auch der Gruppe noch einmal einen Schub gab. Dadurch kann er nicht nur aus der eigenen Erfahrung sprechen, sondern auch das Erlernte weitergeben.

In Sachsen-Anhalt existieren neben der Selbsthilfegruppe in Halle noch eine weitere in Magdeburg und eine in Dessau. Seit März 2021 gibt es auch eine Online-Selbsthilfegruppe, die bundesweit aktiv ist. Sie treffen sich jede Woche Mittwoch von 18.30 Uhr bis 20.15 Uhr unter https://gluecksspielsucht-selbsthilfe.de/2022/01/28/herzliche-willkommen-zur-online-selbsthilfegruppe/ Die Teilnahme ist anonym, für Betroffene und Angehörige, die keine Möglichkeit haben, eine örtliche Selbsthilfegruppe aufzusuchen. eine Registrierung nicht erforderlich.

Die Suchtberatungsstelle der AWO in Halle kooperiert mit der Suchtklinik im Sächsischen Wiesen. In Sachsen-Anhalt gibt es keine Klinik, die sich mit dem Krankheitsbild der Spielsucht befasst.

In Deutschland sind laut aktuellen Studiendaten der BZgA rund 430.000 Menschen von einem problematischen Glücksspielverhalten oder einer Glücksspielsucht betroffen (Quelle: Online-Glücksspiel – nahezu jeder fünfte Spielende zeigt problematisches Verhalten – Der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen (bundesdrogenbeauftragter.de). Die Dunkelziffer liegt weit höher.

Ehrenamtlich vielseitig engagiert

Im November 2021 gründete sich Glücksspielfrei e. V., der Bundesverband Selbsthilfe Glücksspielsucht: https://gluecksspielfrei.de. Stefan Martin Börner ist im Vorstand des Verbandes tätig. Die ehrenamtliche Arbeit zeigt nach seiner Einschätzung schon Wirkung. So will beispielsweise das Land Bremen, ähnlich wie Berlin, die Anzahl der Spielhallen reduzieren. Das meiste Geld, das die Spielhallen einnehmen, kommt übrigens von den Spielsüchtigen.

Die Spielsucht ist die Sucht, die Betroffene und deren Angehörige am schnellsten ruinieren kann, schätzt er ein. Bei der Glücksspielsucht ist die ganze Familie betroffen. Das Outing bei Suchtkranken ist sehr schwierig. Schuld- und Schamgefühle spielen eine Rolle, die Angst, dass sich Menschen von einem abwenden. Heute kann Stefan Martin Börner offen über seine Suchterfahrungen sprechen. Im SWR-Nachtcafé, im MDR oder in der ARD sprach er schon davon, immer mit der Absicht, aufzuklären. „Ich war schon immer sozial engagiert“, sagt er, „als Klassensprecher, später Elternsprecher.“

Und zu seiner jetzigen ehrenamtlichen Arbeit sagt er: „Ich habe eine sinnvolle Aufgabe, solange ich halbwegs gesund bin und es Spaß macht.“ Er bedauert, dass im Jahr 2017 die Vernetzung der Selbsthilfegruppen und der professionellen Beratung in Sachsen-Anhalt endete. Sachsen-Anhalt ist seines Wissens das einzige Bundesland, das keine Landeskoordinationsstelle für Glücksspielsucht mehr hat.

„Eine Sucht ist nicht heilbar“, sagt Stefan Martin Börner, „aber man kann lernen, mit ihr umzugehen.“

Vorgeschlagen zum Bürgerpreis „Der Esel, der auf Rosen geht“

Für sein unermüdliches Engagement haben wir Stefan Martin Börner für den Bürgerpreis „Der Esel, der auf Rosen geht“ vorgeschlagen. Der Preis ist eine Initiative der Mitteldeutschen Zeitung, der Volksbank Halle und des neuen theater. Seit 2003 wird er an Menschen aus Halle und dem Saalekreis vergeben: https://www.mz.de/lokal/halle-saale/mz-leser-konnen-ab-sofort-ehrenamtliche-aus-halle-und-dem-saalekreis-vorschlagen-3331619

Stefan Martin Börner im Beratungsraum der AWO-Suchtberatungsstelle in Halle