Altersarmut

Das Thema Altersarmut ist fast täglich in den Medien präsent. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern gab es als Folge der Wiedervereinigung bei vielen Menschen Brüche in den Erwerbsbiografien, was sich negativ auf die Rentenhöhe auswirkt. Oft sind auch die Löhne in Sachsen-Anhalt im bundesweiten Vergleich recht niedrig, sodass den Menschen am Ende des Berufslebens nur eine schmale Rente bleibt. Gleichzeitig steigen die Eigenanteile in der Pflege. Das führt zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung im Alter, sollten die Menschen pflegebedürftig werden.

Rund 429.000 Menschen sind in Sachsen-Anhalt von Armut betroffen – das sind etwa 20 Prozent der Bevölkerung des Landes. Im Bundesvergleich steht Sachsen-Anhalt damit an vorletzter Stelle.

Die AWO hat in ihrer Kampagne „Schau hin, pack an. Für soziale Gerechtigkeit“ das Problem Altersarmut an die Politik herangetragen und dazu Forderungen aufgestellt.

Wir haben darüber mit Steffi Schünemann M.A., Vorständin Verband und Sozialpolitik des AWO Landesverbandes Sachsen-Anhalt e.V., gesprochen.

AWO Halle-Merseburg: Die AWO fordert in ihrer Kampagne „Schau hin, pack an“ eine Armutskonferenz für Sachsen-Anhalt. Welche Schritte hat die AWO unternommen, diese Forderung den politischen Akteurinnen und Akteuren nahezubringen? Gibt es hier schon Ansätze, die Konferenz tatsächlich ins Leben zu rufen und wenn ja, welche? Und wie könnte der in der AWO-Kampagne angedachte regionale und landesweite „Runde Tische Armut“ umgesetzt werden?

Steffi Schünemann: Eine Armutskonferenz wäre nach den Vorstellungen der AWO Verbände ein Netzwerk, in  dem sich alle Interessenverbände und Partner*innen (Wohlfahrt, Selbsthilfegruppen, Politik, Tafeln, Kommunen und Seniorenbeiräte, Ministerien, Forschung und Wissenschaft) regelmäßig treffen und gemeinsame Maßnahmen und Schritte zur Bekämpfung struktureller Ursachen von Armut sowie zur Abmilderung von Armutsfolgen besprechen und bestenfalls auch gemeinsam umsetzen. Sie setzt sich mit Hintergründen auseinander, beleuchtet Fakten und erarbeitet Lösungswege.

Der Landtag in Sachsen-Anhalt ist nun arbeitsfähig. Wir werden sogleich die Antrittsbesuche bei den Fraktionen und Abgeordneten nutzen, für diesen Ansatz zu werben, da wir hier ein großes gesellschaftliches Erfordernis sehen. Armut muss auf allen Ebenen angegangen werden, regional und landesweit. Die Armutskonferenz soll sich regional in runden Tischen fortsetzen. Es sollen gemeinsame Bedarfe und Probleme gesehen, politisch bewusst gemacht, Ideen entwickelt und Veränderungen angestoßen werden. Derzeit tagen unsere AWO AGs in Fortsetzung der Kampagne „Schau hin. Pack an.“ und konkretisieren die nächsten Schritte sowie die Planungen für die kommenden Monate bzw. das nächste Jahr.

AWO Halle-Merseburg: Wie setzt sich die AWO für die Deckelung der Eigenanteile in der Pflege ein? Was muss die Politik liefern, um Menschen im Alter davor zu bewahren, Sozialleistungen zu beantragen? Gibt es hier schon positive Entwicklungen für die Pflegebedürftigen?

Steffi Schünemann: Die AWO kritisiert seit Jahren deutlich, dass alle Kostensteigerungen, die in Pflegeheimen anfallen, aufgrund bisheriger gesetzlicher Regelungen allein von den Bewohnerinnen und Bewohnern getragen werden müssen. Da hierfür zunehmend die Rente nicht ausreicht, ist der Gang zum Sozialamt vorprogrammiert. Mit einer durch die AWO gestarteten Petition sollte erreicht werden, dass steigende Pflegekosten aus Mitteln der Pflegeversicherung getragen werden. Im Februar 2019 wurde die Petition zum Thema Eigenanteile in der Pflege beim Petitionsausschuss der Deutschen Bundestages eingereicht. Mit über 70.000 Unterschriften war diese erfolgreich. Der AWO Bundesverband erhielt am 06.09.2021 die Mitteilung vom Petitionsausschuss, dass eine Beschlussvorlage für die parlamentarische Beratung erstellt wird. Dieser Zeitablauf stellt uns angesichts der Situation der pflegebedürftigen Menschen alles andere als zufrieden.

Mit der jüngsten Reform der Pflegeversicherung im Rahmen des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetztes wird geregelt, dass zum Januar Pflegebedürftige einen Zuschuss zum Eigenanteil erhalten, der von der Aufenthaltsdauer im Pflegeheim abhängig ist. Allerdings fällt die Regelung so aus, dass wiederum nicht alle pflegebedingten Kosten gedeckt werden und ein nicht unerheblicher Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner der Pflegheime weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen sein wird. Eine Begrenzung der Eigenanteile fehlt nach wie vor. Die langfristige Sicherung der Versorgung und der Pflege der Menschen und die weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Pflegenden wird Geld kosten. Anscheinend ist aber der Wert einer guten Pflege und Versorgung trotz allen Beifalls in Corona Zeiten noch nicht mit der politischen Priorität versehen, die sie zu haben hat.

Vor diesem Hintergrund fordern wir, dass die parlamentarische Beratung weitere Änderungen der Gesetzgebung auf den Weg bringt, die die Bewohnerinnen und Bewohner endlich wirksamer von den   pflegebedingten Kosten entlastet.

Der AWO Bundesverband hat vor der Wahl gemeinsam mit einem Bündnis aus weiteren Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Wissenschaftler*innen den dringenden Handlungsbedarf in der Pflege deutlich gemacht. In einem Brandbrief an die  Kanzlerkandidat*innen wurden drei zentrale pflegepolitische Anliegen formuliert und dazu aufgefordert, zum Thema Pflege Stellung zu beziehen. Gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode schlägt das Bündnis einen Pflege-Gipfel mit einer Vielfalt an Expert*innen vor. Ein zentrales Thema ist hier auch die faire Verteilung der finanziellen Belastung.

AWO Halle-Merseburg: Altersarmut kann auch einsam machen. Menschen ziehen sich zurück, werden anfällig für Depressionen. Was unternimmt die AWO gegen die gesellschaftliche Isolation der Menschen?

Steffi Schünemann: Altersarmut ist nicht nur finanzielle Armut, sie geht einher mit Einsamkeit, da den Seniorinnen und Senioren die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht möglich ist. Hinzu kommt, dass sich gerade ältere Menschen oft für ihre Situation schämen. Das berichten uns unsere AWO Verbände vor Ort, wie z.B. die AWO im Harz als Trägerin der Quedlinburger Tafel. Dort können Menschen im Restaurant mit Herz neben der warmen Mahlzeit auch mit anderen ins Gespräch kommen.  Für viele ältere Menschen ist die Tafel, so wie auch die gern besuchten Seniorentreffs, darüber hinaus ein Ort des Austausches. Hier können sie der Einsamkeit entfliehen.

Die AWO hat vielerorts Angebote im Rahmen der offenen Altenhilfe. Hier gibt es gemeinsame Tagesausflüge, Gymnastikangebote, Kreativangebote sowie Beratung und Vermittlung von weitergehenden Hilfen. Es ist wichtig, möglichst niedrigschwelligen Zugang zu bieten. Allerdings sind diese Angebote auch von den Möglichkeiten der kommunalen Finanzierung der Daseinsvorsorge abhängig. Um Teilhabe zu ermöglichen bedarf es vielfältiger Angebote für Senioren vor Ort, die verlässlich finanziert werden. Hier besteht auch gesetzlicher Regelungsbedarf.

Die AWO Ehrenamtsakademie unterstützt ehrenamtliches Engagement und vor allem innovative Ideen, die Menschen zusammenbringen. Wie z.B. das Projekt „Radeln mit Herz“, dass in vielen AWO Pflegeeinrichtungen vor Ort umgesetzt wird. Dort fahren ehrenamtliche Rikschapiloten die Seniorinnen und Senioren spazieren. Altbekannte und neue Orte können bestaunt werden und Generationen kommen ins Gespräch.

Grundsätzlich sind Weichen zu stellen, damit es nicht zur Altersarmut kommt. In Sachsen-Anhalt wächst derzeit die Generation in die Rente, deren Erwerbsleben in besonderer Weise von den wirtschaftlichen Umbrüchen der Wende gekennzeichnet ist. Viele erzwungene Jobwechsel und auch Zeiten der Erwerbslosigkeit lassen beitragsarme und auch beitragsfreie Jahre in die Rentenberechnung einfließen. Häufig steht an diesem Ende dann eine „kleine Rente“. Die neu eingeführte Respektrente wird diese geringen Renten nicht gänzlich abfangen können. Hier werden wir die Auswirkungen im Blick haben. Sollten die Entlastungen nicht wirken, braucht es auf Bundesebene eine Neuregulierung, die die besonderen, ostdeutschen Erwerbsbiografien berücksichtigt.

Die AWO tritt zudem für eine Reform der Grundsicherung ein. Es sind substantielle Verbesserungen bei der Berechnung und Ausgestaltung des menschenwürdigen Existenzminimums notwendig.

AWO Halle-Merseburg: Erwerbsarmut durch niedrige Löhne führt auf lange Sicht in die Altersarmut. Wie setzt sich hier die AWO als Arbeitgeberin ein, um für gute Löhne zu sorgen?  Und wie sieht das Wirken der AWO als zivilgesellschaftliche Akteurin mit politischer Kraft aus, um Erwerbsarmut im Land Sachsen-Anhalt perspektivisch zu mindern?

Steffi Schünemann: In der AWO Landeskonferenz am 09.10.2021 wurde beschlossen, dass alle Verbände der AWO in Sachsen-Anhalt sich dafür einsetzen, dass spätestens im Jahr 2024 ein einheitlicher verbindlicher AWO Landestarifvertrag in Sachsen-Anhalt durch den AWO Arbeitgeberverband vereinbart ist, welcher sich in der Höhe der Bezahlung am aktuellen TVÖD orientiert. Damit werden für die Mitarbeiter*innen der AWO in Sachsen-Anhalt gleichwertige, transparente, verlässliche, faire und attraktive Gehälter und Arbeitsbedingungen geschaffen. Dies beinhaltet auch, das dann Kräfte gebündelt werden können und die AWO in Sachsen-Anhalt als starker Verhandlungspartner auftreten kann. Dies betrifft alle Arbeitsgebiete von der Jugend– bis zur Altenhilfe.

Die AWO war die Triebkraft zur Etablierung eines Branchentarifvertrages in der Pflege, der bundesweit wirksam werden sollte. Diese Intention wurde durch die Caritas ausgebremst, welche den Antrag der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und der Gewerkschaft ver.di, den Tarifvertrag für die Altenpflege über eine Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich zu erklären, abgelehnt hat. Ziel war Altenpflegekräfte besser zu bezahlen und ein fairer Wettbewerb, der nicht über die Löhne geführt wird.

Als AWO setzen wir uns vehement für ein Bewusstsein ein, dass Armut kein individuelles Versagen, sondern ein gesellschaftliches und strukturelles Problem ist. Armut kann deshalb auch nur gesellschaftlich, strukturell und institutionell gelöst werden. Diese Tatsache vertreten wir konsequent, beginnend bei der Situation von Kindern und Familien. Was hier nicht strukturell aufgefangen und ermöglicht wird, setzt sich im Erwerbsleben fort. Mit unserer AWO Position „Wege aus Armutspfaden“ (Link?) haben wir Lösungswege herausgearbeitet, die es jetzt braucht. Dazu gehören u.a. Kitas, Horte und Schulen mit begleiteten Übergängen bis ins Erwerbsleben und flächendeckender Sozialarbeit, ganzheitliche Hilfen für Familien vor Ort, bezahlbarer Wohnraum, eine bedarfsorientierte Kindergrundsicherung, Lohngerechtigkeit und eine Aufwertung der sozialen Berufe. Zu all diesen Themen werden wir mit den Landespolitiker*innen ins Gespräch kommen und Einblicke vor Ort geben. Wir werden z.B. in der Praxis zeigen, was Kita-Sozialarbeit leisten kann, in Workshops mit Kommunalvertreter*innen die Wirksamkeit von offener Jugendarbeit herausarbeiten – wir werden entlang der Lebensphasen Ursachen und Wirkungen sozialer Rahmenbedingungen aufzeigen. Hierzu arbeiten alle AWO Verbände gemeinsam in AGs als konsequente Fortsetzung unserer Kampagne „Schau hin. Pack an. Für Soziale Gerechtigkeit“ Ideen und Vorschläge aus. Es gibt viel zu tun – wir sind motiviert, lösungsorientiert und kritikfreudig im konstruktiven Sinne!

Diesen Beitrag finden Sie in gekürzter Form auch in unserem Verbandsmagazin AWO BERICHTET, Ausgabe 3/2021.